„Traut euch, brecht aus, nutzt eure Stimme“

Liebe Mitschüler:innen, liebe Lehrer:innen,
während Karin Prien an dieser Stelle wahrscheinlich schon in Buhrufe ausgebrochen wäre, freue ich mich, Euch und Sie, und auch Sie liebe Gäste, alle hier heute zu sehen.
Denn es ist jetzt tatsächlich vorbei. Wir haben’s geschafft. So lange haben wir uns diesem Tag entgegen gesehnt, vielleicht auch ein bisschen gebangt, und hier ist er jetzt.
Alles, was wir so die letzten acht Jahre gemeinsam an dieser Schule erlebt haben, findet heute doch nach allem Auf und Ab irgendwie ein Ende. Ein ganz schön seltsames Gefühl, nicht wahr? Aber was für ein gutes Ende es ja eigentlich ist – eines, dass nicht wirklich meint: „Jetzt ist Schluss“, sondern das Gegenteil: Es ist ein Ende, das am Anfang steht. Am Anfang von alledem was jetzt noch so kommt. Am Anfang unserer Leben.
Auch wenn sich jetzt erstmal alles nach einem großen Abschied anfühlt, ist es vor allem auch ein Aufbruch in neue Kapitel. Was die Zeit, die da auf uns zukommt, wohl so bringen mag?
Unsere Schulzeit, also die zeit in der wir aufgewachsen sind, war umgeben von verschiedensten Krisen. Da war natürlich Corona, klar, aber da sind auch der Klimawandel, Kriege beispielsweise in Osteuropa und im Nahen Osten. Da ist das Erstarken von rechten und rechtsextremen Parteien in ganz Europa und auch in Deutschland.
Ganz ehrlich, ohne pessimistisch klingen zu wollen, so viel Aussicht auf rasante positive Änderung dieser Zustände kann uns wohl niemand versprechen. Die Klimakatastrophe ist mittlerweile so gut wie unaufhaltbar, Politiker:innen scheinen das aber am liebsten nicht zu sehr zu beachten. Protestierende werden als hysterisch abgestempelt, während immer mehr Teile dieser Welt unbewohnbar werden.
Unser Grundgesetz hat dieses Jahr den 75. Geburtstag gefeiert. Ironisch, dass sich gleichzeitig eine Partei etabliert, deren Programm komplett konträr dazu steht, was 1949 für Deutschland festgeschrieben wurde. Aber unsere Generation scheint das leider anzuziehen, wenn man sich die Europawahl anguckt und das Wahlverhalten der 16-24 jährigen, also Menschen
in unserem Alter. Fraglich, vor allem wenn man bedenkt, dass die AfD den jungen Menschen schadet. Das ist schon lange kein Protestwählen mehr, wie Studien zeigen, das ist ernstzunehmende Überzeugung. Und das, während die Inhalte der angeblichen „Alternative“ für Deutschland gruselig an 1933 erinnern. Wir sind eine wehrhafte Demokratie wird immer gesagt. Aber sind wir das wirklich? Wie wehrhaft, wenn die Mittel, die uns zur Verfügung stehen, wie ein AfD-Verbotsverfahren, nicht solange noch genutzt werden, wie es noch geht? Denn statt sich auf die real existierende Gefahr zu fokussieren, schieben auch die ursprünglichen Parteien der „Mitte“ den Rahmen des „Was darf man denn heute überhaupt noch sagen“-Diskurses immer weiter nach rechts und wettern im Bundestag lieber gegen Geflüchtete und das Gendern.
CDU Chef Merz stellt sich beispielsweise hin und verbreitet Lügen über Zahnarztbesuche, aber auch unserem Herrn Bundeskanzler fällt 2023 leider nichts anderes ein, als sich in einem eh schon aufgewühlten Land mit den Worten „Wir müssen endlich im großen Stil abschieben“ auf die Titelseite des Spiegels drucken zu lassen. Lieber Herr Scholz, man wehrt sich nicht gegen Rechtsextreme, in denen man ihre Forderungen übernimmt.
Und als ob es für die geflüchteten Menschen in Deutschland nicht schon schwierig genug gemacht wird. Als ob die Bezahlkarte, die dieses Jahr für Asylsuchende eingeführt wurde, nicht einen massiven Eingriff in die Selbstbestimmung darstelle. Als ob 2023 nicht über 3000 Menschen auf der Flucht im Mittelmeer ertrunken wären, während die europäische Lösung namens Frontex schulternzuckend zusieht. Als ob nicht, laut Amnesty International, 2023 im Schnitt alle viereinhalb Stunden ein Angriff gegen Geflüchtete in Deutschland stattgefunden hätte. In vielen Ländern der Welt ist es wegen Terror, Krieg und Klima schon lange nicht mehr auszuhalten – warum sich so dagegenzustellen, dass diese Menschen auch ein sicheres Leben verdienen, ist mir wahrlich ein Rätsel.

Bei mir stellt sich bei dieser politischen Lage jedenfalls ein bedrohliches Gefühl ein, und, ich denke da geht uns allen so, es werfen sich da schon einige Fragen auf.
Wie eigentlich weiter machen? Wie auf die Zukunft freuen und Pläne machen und sorgenfrei die Jugend genießen, wenn da so eine Ungewissheit und Verworrenheit auf einen wartet?
Ich glaube, die Antwort darauf muss jeder und jede von uns im Endeffekt für sich selber finden. Niemand wird sich für uns hinstellen und sagen „Hey ich mach das, du musst dir um nichts Sorgen machen“. Das wollen wir ja auch ab einem bestimmten Alter eigentlich ja auch gar nicht mehr.
Deshalb: Traut euch, brecht aus, nutzt eure Stimme, bleibt wachsam. Setzt euch ein für die Dinge, die ihr wichtig findet.
Ich glaube, in diesen Zeiten, in denen wir groß werden, ist es vor allem wichtig, einen klaren Kopf zu bewahren und nicht die Hoffnung zu verlieren. Wenn man sich beispielsweise an die großen Gegen-Rechts Demos Anfang dieses Jahres erinnert, auf denen bestimmt einige von uns auch waren, kann man wagen, auch wieder an eine Besserung zu glauben.
Wir sollten, glaube ich, lieber nach echten Lösungen und neuen Wegen suchen, damit alle Menschen in Würde leben können.
Es gibt noch viel zu tun.
Da kommt also ne Menge auf uns zu. Mir ist vor allem wichtig, nicht aus dem Blick zu verlieren, dass wir mit diesen Themen nicht alleine sind. Wenn wir uns gegenseitig zuhören, einander zuhören, und unterstützen, sei es bei ganz alltäglichen Dingen, dann wachsen wir als Gesellschaft wieder so zusammen, was es braucht, um etwas zu verändern.
Während im politischen „Handeln jetzt“ das Motto sein darf, kann im Privaten für uns erstmal das Gegenteil gelten. Gerade jetzt, wo wir unser Abitur erfolgreich abgeschlossen haben. Was wollen wir sehen, ausprobieren?
Ich finde, dass es sich in einer so großen Welt manchmal auch als sehr schwer gestaltet, überhaupt zu wissen, wo man anfangen will, deshalb mal generell: dem Schulsystem und einer Gesellschaft die einen vor allem darauf drillt, möglichst alles ganz schnell und am besten auch noch richtig gut zu schaffen, möchte ich etwas entgegensetzen: Wir haben alle Zeit der Welt. Um es mit Billy Joel zu sagen: Slow down, you’re doing fine, you can’t be everything you want to be before your time. Also, durchatmen ist angesagt. Auch wenn es sich vielleicht so anfühlt, als würde uns die Zeit davon laufen, und obwohl es noch nicht mal angefangen hat, das Leben, wären wir schon zu spät dran, in Wahrheit liegt der Großteil unserer Leben hoffentlich noch vor uns. Da gibt es noch so viel zu entdecken, so viel zu erleben und so viel zu erfahren.
So viel Neues, was auf uns wartet. So viel, was sich all die Jahre so unerreichbar weit weg angefühlt hat, kommt jetzt zum greifen nah. Ich hoffe, alle von uns finden einen Weg für sich, mit allem, was auf uns zukommen mag, gut umzugehen und etwas daraus zu machen. Es gibt so viele verschiedene Arten, glücklich zu werden. Ich hoffe, wir finden unsere eigenen.
Dankeschön.

Lena Schadeberg