Das Paradies als Möglichkeit

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, liebe Eltern, liebe Kolleginnen und Kollegen, geehrte
Gäste,

Heute ist also Schluss, Aus, Ende. Schluss mit dem Schulgebäude, das jeder Barrierefreiheit standhaft den Kampf ansagt, Schluss mit dem Drängen und Quetschen durch das Schultor, wenn die 6. Stunde am Freitag endlich vorbei ist, Schluss mit Untis, das einem vielleicht nicht immer die Stundenplanänderungen rechtzeitig anzeigte, aber immer eine wirksame Ausrede für nicht angefertigte Hausaufgaben lieferte. Einzig das langsame, teils unzuverlässige Internet wird Ihnen wohl erhalten bleiben, sofern Sie sich weiterhin für den Bildungsstandort Deutschland entscheiden.
Ebenso ist es aus mit ständigen Klausurphasen, die kaum abgeschlossen schon wieder neu beginnen. Es ist aus mit dem Unterrichtsbeginn um acht Uhr morgens, einfach gottlos, nicht nur für Sie. Es ist aus mit Unterrichtsfächern, deren Sinn man schon seit der fünften Klasse nicht verstand und die man leider selbst in der Oberstufe nicht abwählen durfte.
Es endet aber auch die Zeit, in der Sie Ihre Freunde fast täglich gesehen haben, die Zeit, in der alle paar Wochen einfach frei war, die Zeit, in der man es sich leisten konnte auch mal nicht Erwachsen zu sein. Kurzum: Ihre Schulzeit hat nun ein Ende.
Das stimmt etwas wehmütig, denn mit dem Johanneum lassen Sie mehr hinter sich als nur ein Gebäude, Unterricht, Lehrkräfte und fragwürdiges Internet, Sie verlassen eine Gemeinschaft, deren fester Teil Sie waren und die Sie über viele Jahre mitgeprägt haben. Wir verabschieden mit Ihnen heute also auch einen Teil unserer Gemeinschaft, einen Teil unseres Johanneums.
Das gilt sicherlich auch in einem höheren Maß für mich, denn ich kenne das Johanneum gar nicht ohne Sie.
Aber natürlich ist dies ein Ende, dem viele von Ihnen sicherlich schon seit dem Eintritt in die Oberstufe entgegenfiebern. Und es ist ein Ende, auf das Sie stolz sein können. Es ist ein gutes Ende, der gerechte Lohn für Ihre Arbeit und Anstrengungen. Und an dieser Stelle möchte ich nun das obligatorische Zitat unterbringen. Achtung, es ist
etwas länger:
Nun könntet ihr womöglich daraus schließen, dass es auch im Leben immer so gerecht zuginge […]! Das wäre allerdings ein verhängnisvoller Irrtum! Es sollte so sein, und alle verständigen Menschen geben sich Mühe, dass es so wird. Aber es ist nicht so. Es ist noch nicht so.
Wir hatten einmal einen Mitschüler, der schrieb regelmäßig von seinem Nachbarn ab. Denkt ihr, er wurde bestraft? Nein, der Nachbar wurde bestraft, von dem er abschrieb. Seid nicht allzu verwundert, wenn euch das Leben einmal bestraft, obwohl andere die Schuld tragen. Seht zu, wenn ihr groß seid, dass es dann besser wird! Uns ist es nicht ganz gelungen. Werdet anständiger, ehrlicher, gerechter und vernünftiger, als die meisten von uns waren! Die Erde soll früher einmal ein Paradies gewesen sein. Möglich ist alles. Die Erde könnte wieder ein Paradies werden. Alles ist möglich.
So schließt Erich Kästner seinen Kinderroman „Pünktchen und Anton“, wohlgemerkt im Jahr 1931. Das Paradies lässt demnach schon etwas länger auf sich warten. Auch Kästner blickt auf die Schulzeit und die beschriebene Ungerechtigkeit kennen wir bestimmt alle. Auch einige dieser Ungerechtigkeiten werden Sie nun hinter sich lassen können.
Andere allerdings bleiben – benotete Gruppenarbeiten gibt es auch an der Uni. Ihnen werden aber auch neue Ungerechtigkeiten begegnen, Ungerechtigkeiten, die in ihrem Ausmaß deutlich größer und in ihrer Bedeutung ungleich gravierender sind. Das Paradies lässt auf sich warten, die Krise ist schon da, gerade aktuell wird uns dies regelmäßig mitgeteilt. Auch im Schulalltag spielten diese Ungerechtigkeiten eine Rolle. Sei es, weil Sie sich in AGs, durch Projekte gegen Klimawandel, Ausgrenzung, Kriege und Co stellten oder diese Themen im Unterricht diskutierten.
In diesem Zuge durfte ich Sie als junge Menschen kennenlernen, die Anteil nehmen, Themen ansprechen und Stellung beziehen. Es geht nicht immer gerecht zu. „Es sollte so sein, und alle verständigen Menschen geben sich Mühe, dass es so wird.“ In meinen Augen gehören Sie zu diesen verständigen Menschen. Das sage ich mit Stolz. Stolz auf Sie und Ihre Entwicklung und Stolz auf alle jene, die daran mitgewirkt haben, dass Sie nun diese verständigen Menschen
sind, seien es Eltern, Lehrerinnen und Lehrer oder andere Wegbegleiter. Behalten Sie sich Ihre kritische Haltung bei. Blicken Sie auf die Ungerechtigkeiten der Welt und wenden Sie sich nicht ab, sondern stellen Sie sich diesen als Herausforderungen. „Seht zu, wenn ihr groß seid, dass es dann besser wird!“, schreibt Kästner. Nun, Sie sind jetzt groß, machen Sie es besser! Nicht unbedingt im großen Maßstab, jedes kleine Bisschen hilft. Ganz gleich, ob Sie direkt ins Studium oder eine Ausbildung starten, eine Freiwilliges Jahr absolvieren, reisen oder zum Beispiel in Togo Sport unterrichten, engagieren Sie sich, bringen
Sie sich ein.
Wir entlassen Sie heute als Abiturientinnen und Abiturienten, es fühlt sich ein bisschen so an, als würden wir Sie aus dem kleinen sicheren Kreis unserer Schulgemeinschaft in die große weite Welt werfen. Sie gehen sicher mit Erwartungen, denken darüber nach, was die Welt Ihnen zu bieten hat. Das weiß man vorher nie so genau.
Ich kann Ihnen aber sagen, dass Sie der Welt etwas zu bieten haben. Das haben Sie als Teil der Schulgemeinschaft gezeigt. Sie sind diejenigen, die „anständiger, ehrlicher, gerechter und vernünftiger“ sein können.
Dieses gute Ende wird nicht das letzte für Sie gewesen sein. Wie der portugiesische Schriftsteller Fernando Sabino schreibt: „Am Ende wird alles gut. Und wenn es nicht gut wird, dann ist es noch nicht zu Ende.“
Unsere Wege trennen sich heute. Zeigen Sie der Welt, was Sie ihr zu bieten haben. Engagieren Sie sich weiterhin, bleiben Sie kritisch. Ich wünsche Ihnen noch viele gute Enden und wenn Sie einmal an der Welt zweifeln und die
Ungerechtigkeiten auf Sie einprasseln, denken Sie an Kästners Worte:
„Die Erde könnte wieder ein Paradies werden. Alles ist möglich.“
Vielen Dank!

Maximilian Kuhn